„Erst der Lebensentwurf macht berufliche Entscheidungen nachvollziehbar“

Bild Birgit WeinmannBirgit Weinmann ist Auditorin der berufundfamilie Service GmbH. Zusammen mit dem Institut für Beschäftigung und Employability (IBE) der Hochschule Ludwigshafen hat sie die Studie „Vereinbarkeit 2020“ konzipiert und durchgeführt. Was bedeuten ihre Ergebnisse für Deutschlands Arbeitgeber? Ein Interview.
 
 

Frau Weinmann, was heißt für Sie als Ergebnis der Studie „Vereinbarkeit“?

Sehr verkürzt kann man sagen: Das, was alle Beschäftigten wollen. Familie in allen Facetten steht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Wichtigkeitsranking ganz oben, unabhängig vom persönlichen Familienstatus. Fast 50% der Befragten gaben an, keine Kinder zu betreuen oder Pflegeaufgaben wahrzunehmen. Auch Freunde werden als sehr wichtig eingeschätzt. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist so individuell wie die Menschen und geht in der Realität weit über den klassischen Familienbegriff hinaus. Jeder hat eine persönliche Vorstellung davon, wie berufliche Aufgaben und das Privatleben idealerweise miteinander integriert sein sollten. Unsere Studie wirft die Frage auf: Wie können Arbeitgeber den vielfältigen persönlichen Vorstellungen von Vereinbarkeit  gerecht werden und wie sieht eine entsprechende Personalpolitik konkret aus, die die Attraktivität der Arbeitgeber stärkt und damit Fachkräfte sichert?

Wie stehen denn die Beschäftigten selber dazu?

Sie betonen insbesondere die Bedeutung eines entsprechenden Betriebsklimas und einer Geschäftsführung, die Vereinbarkeit zur Chefsache macht. Das rangiert noch vor den konkreten Instrumenten. Das Eingehen auf persönliche Belange wird erwartet. Wer allerdings keine Kinder (mehr) betreut oder sich nicht um pflegebedürftige Angehörige kümmert, sieht sich bisher weniger als Zielgruppe der betrieblichen Vereinbarkeitspolitik.

Was schließen Sie daraus?

Es gibt ein grundsätzliches Bedürfnis aller Beschäftigten, vor dem Hintergrund ihrer individuellen Belange wahrgenommen zu werden. Sie möchten verhandeln können, wie sie ihre Rolle als Beschäftigte in ihr Lebensmodell integrieren. Unsere Studie zeigt, Beschäftigte wollen weder dauerhaft auf Vereinbarkeit verzichten noch in einer Karrieresackgasse enden, wenn sie zeitweise mehr Zeit für die Familie benötigen. Wer keine klassischen Familienaufgaben übernimmt – Kinderbetreuung oder die Pflege eines Angehörigen -, will mit seinen Belangen ebenfalls Gehör finden. Die Anliegen der Beschäftigten sind heute vielfältiger geworden. Die Nachfrage nach individuellen Lösungen steigt.  Personalpolitik muss dies managen.

Sie plädieren dafür, in der Vereinbarkeitsstrategie die Lebensentwürfe der Beschäftigten mitzudenken, zusätzlich zu ihren Berufs- und Lebensphasen. Was heißt das: Lebensentwurf?

Aus den Ergebnissen der explorativen Studie haben wir ein Konzept entwickelt, mit dem individualisierte Lösungen zum expliziten Bestandteil der systematischen betrieblichen Vereinbarkeitspolitik gemacht werden können. Lebensentwürfe beschreiben das Verhalten der Menschen in Bezug darauf, wie sie ihren Alltag gestalten und organisieren. Hierzu gehören beispielsweise Freizeitverhalten, Formen der Geselligkeit, Mediennutzung, Wertorientierungen, Einstellungen, Haltungen und Wahrnehmungen der Umwelt. In der Konsumforschung werden Lebensentwürfe bzw. Lebensstile bereits eingesetzt, um maßgeschneiderte Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln. Die Lebensentwürfe sind im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben ein zentrales Element, zum Beispiel hinsichtlich der persönlich angestrebten Zeitverwendung für die unterschiedlichen Lebensbereiche.

Woran kann es unter diesen Umständen liegen, wenn ein Instrument der Vereinbarkeit zu anderen Ergebnissen führt, als erwartet?

Nehmen wir Serviceleistungen für Familien, wie etwa die betriebliche Kinderbetreuung oder die Unterstützung von Pflegenden. Person A wird dieses Angebot sehr gern in Anspruch nehmen, die Betriebskita nutzen oder eine Pflegeeinrichtung wählen, sich dadurch entlastet fühlen und mehr Zeit in die Berufstätigkeit investieren können.
Person B legt demgegenüber mehr Wert darauf, selber Zeit mit den Kindern zu verbringen oder die Pflege persönlich zu leisten. Sie nimmt die Betriebskita auch bei hoher Qualität nicht in Anspruch oder verzichtet auf die Vermittlung eines Pflegeplatzes. Ermöglicht es der Arbeitgeber aber von zu Hause zu arbeiten, wird Person B vielleicht doch mehr Arbeitszeitkapazität zur Verfügung stellen können.
Person C wiederum ist alleinstehend, lebt zum Beispiel in einer Fernbeziehung  oder möchte eine längere Urlaubsreise realisieren. Sie wird gern von einem Arbeitszeitkonto oder von flexiblen Arbeitszeiten Gebrauch machen, obwohl sie anfangs überhaupt nicht als Zielgruppe für Vereinbarkeit galt.

Heißt das, Personalabteilungen müssen künftig die Einstellungen und Werte jedes einzelnen Beschäftigten kennen und bei ihrer Vereinbarkeitsstrategie berücksichtigen?

Eine Kategorisierung jedes einzelnen Mitarbeiters bzw. jeder Mitarbeiterin ist nicht zielführend und nicht gewollt. Es geht darum, dass Arbeitgeber Offenheit für die Lebensentwürfe ihrer Beschäftigten zeigen und den Dialog hierzu fördern. Für die eigene Vereinbarkeitsstrategie hilft es zu analysieren, welche Flexibilität das Instrumentarium bietet, um die unterschiedlichen Lebensentwürfe zu bedienen. Unsere drei Cluster geben hier erste Hinweise. Führungskräfte müssen die Anliegen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern immer individuell besprechen, dafür gibt es schon heute geeignete Führungsinstrumente. Die Frage ist, wie diese umgesetzt werden. Hier sind wir wieder bei der Unternehmenskultur.

„Vereinbarkeit 2020“ bedeutet also genau was?

Das bedeutet, die Instrumente zur Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben intelligent zu vernetzen, damit sie sich auf unterschiedliche Lebensentwürfe adaptieren lassen, ohne dabei beliebig zu werden. Die Instrumente auf klassische Familienaufgaben zu beschränken und die Schubladen „Kind“ oder „Pflege“ zu ziehen, reicht nicht. Teamlösungen und Aushandlungsprozesse spielen dabei eine größere Rolle als bisher. Die entsprechende Beratungskompetenz im Unternehmen wird wichtiger. Um die eigene Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern, müssen Arbeitgeber Vereinbarkeit weiter denken: „Beschäftigte dort abholen, wo sie stehen“, dieser traditionelle Satz aus der Personalentwicklung wird nicht mehr ausreichen. Er erweitert sich auf: „Menschen dahin zu begleiten, wo sie hinwollen“. Genau das ist die Erwartungshaltung der Fachkräfte und Bewerberinnen und Bewerber an attraktive Arbeitgeber.